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Reha für das Gehirn

Zuletzt aktualisiert am 28. Februar 2024 Erstmals publiziert am 04. März 2021

Hirnverletzungen oder Hirnoperationen können zu kognitiven und motorischen Beeinträchtigungen führen. Damit Betroffene möglichst schnell wieder in den Alltag zurückfinden, beginnt die Frührehabilitation schon auf der Intensivstation.

Manche Menschen haben Glück im Unglück: Sie erleiden einen Schlaganfall, erkranken an einem Tumor oder werden bei einem Unfall am Kopf verletzt, ohne dass das Gehirn Schaden nimmt. In vielen Fällen kommt es aber zu einer Gehirnschädigung, und Motorik, Kognition oder Sprache – oder alles zusammen – sind beeinträchtigt. Damit diese Funktionen möglichst vollumfänglich wiedererlangt werden können, beginnt die Frührehabilitation schon auf der Intensiv- oder der Überwachungsstation. «Von Anfang an unterstützen und fördern wir die Patientinnen und Patienten in ihrem normalen Bewegungsverhalten», erklärt Yvonne Schaller, Leiterin Therapie Kliniken Nord. Das kann zum Beispiel heissen, dass die Betroffenen wieder lernen müssen, sich im Bett zu drehen oder auf den Bettrand zu setzen. Genauso wichtig ist eine sorgfältige Beurteilung der Schluckfähigkeit. Können Menschen nicht richtig schlucken, können sie auch nichts essen, oder sie verschlucken sich an ihrem Speichel. «Nach jeder Art von Hirnverletzung kann es sein, dass die Patientinnen und Patienten Alltagshandlungen wieder neu erlernen müssen», führt Neurologe Andreas Luft aus. Noch gibt es kaum Unterschiede in den Therapien nach Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall oder Hirnoperationen – die Fachwelt weiss schlicht noch zu wenig über die Funktionsweise der Therapie. Gemeinsam ist ihnen eines: Die Therapie ist sehr individuell und gleichzeitig interdisziplinär. Pflegefachpersonen, Neurologen, Ergotherapeutinnen, Neuropsychologinnen, Physiotherapeuten, Logopädinnen und manchmal auch Ernährungsberaterinnen, Psychotherapeuten oder der Sozialdienst sind involviert.

Aktives Training ist nötig

Zusammen haben sie das Ziel, dass Betroffene möglichst bald möglichst viele Alltagshandlungen wieder selbstständig ausführen können. Nebst motorischen Beeinträchtigungen ist oft das Sprechen, Lesen, Schreiben oder Verstehen beeinträchtigt. «Im Alltag geschieht viel über gesprochene und geschriebene Sprache», erklärt Leonora Graber, Leiterin Logopädie Neurologie. Für Menschen mit Aphasien kann schon ein Lebensmitteleinkauf eine unüberwindbare Hürde sein. Auch Einschränkungen im Verfassen und Lesen von Textnachrichten können die Teilhabe am sozialen Leben zusätzlich erschweren. «Als Erstes müssen die Betroffenen realisieren, dass etwas nicht funktioniert », so Leonora Graber. Zum Beispiel bei einem Neglect: «Diese Menschen blenden die nach einem Schlaganfall beeinträchtigte Seite aus», erklärt Pflegeexpertin Nicole Schubiger. «Da arbeiten wir erst mal gemeinsam daran, dass sie das wahrnehmen.» Erst dann ist ein aktives Training möglich. Dieses ist notwendig, damit sich das Gehirn wieder an eine Bewegung gewöhnt, sie wieder erlernen kann. «Wenn eine Körperseite gelähmt ist, kompensieren Menschen Bewegungen oft mit der noch funktionierenden Seite. Das Gehirn soll sich möglichst nicht daran gewöhnen, sondern durch therapeutische Unterstützung erfahren, dass die betroffene Seite eine Bewegung auch wieder ausführen kann», ergänzt Yvonne Schaller. «Dank seiner Plastizität besteht die Chance, dass das Gehirn verloren gegangene Funktionen wieder neu erlernt.» Auch vonseiten der Pflege geht es darum, die Selbstständigkeit der Patienten zu fördern. Manche müssen lernen, eine ganze Körperseite wieder zu bewegen, andere haben eine Wahrnehmungsstörung, und manchmal geht es primär um das Trainieren des Sprechens, Lesens oder Schreibens. Jeder Mensch benötigt eine andere Therapie und bringt andere Voraussetzungen mit.

Nach einer Gehirnschädigung muss vieles neu erlernt werden: beispielsweise das Sprechen, Lesen, Schreiben oder Verstehen. Logopädin Leonora Graber trainiert spezifisch diese Funktionen mit den betroffenen Menschen.

 

Das Hirn reagiert auf Belohnung

«Die Hauptsache ist, dass die Betroffenen möglichst früh eine umfassende Therapie erhalten und regelmässig trainieren», führt Andreas Luft aus. Das braucht viel Motivation. Hier setzt die neuste Studie des Neurologen und seines Teams an. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Zentren, die Motivation und Belohnung im Gehirn codieren, und dem motorischen Cortex – der Hirnregion, aus der die willkürlichen Bewegungen gesteuert werden. «Wir wollen herausfinden, ob durch die Verstärkung der Belohnung das Lernen verbessert wird», schildert er die Idee. Schlaganfallpatienten mit einer Armfunktionsstörung wurden dazu in zwei Gruppen unterteilt: Die eine erhielt für das Armtraining einen kleinen Geldbetrag, bei der anderen blieb das Training unbelohnt. Erste vorläufige Resultate weisen darauf hin, dass die belohnten Menschen schneller lernen. Belohnt werden kann mit Geld, Musik, Essen oder einer Rückmeldung zum Trainingserfolg. «Natürlich wird auch im Bereich der Medikamente geforscht», sagt Andreas Luft. Die Fachwelt arbeitet an Stoffen, die die Plastizität des Gehirns ausbauen können.

Viel Arbeit nach dem Spitalaufenthalt

«In den ersten zwei Wochen nach einer Hirnoperation oder Hirnverletzung machen die Patientinnen und Patienten oft grosse Fortschritte», sagt Leonora Graber. «Die Arbeit geht dann aber nach dem Spital in der Reha weiter.» Das Problem: Für Neuro-Rehabilitationen gibt es praktisch keine Qualitätsindikatoren. «Das Potenzial der Neuro-Reha ist bei Weitem nicht ausgeschöpft», betont Andreas Luft. Es lohnt sich also, auch nach der Reha zu Hause dranzubleiben.