Gebrechlichkeit

Frailty

Die Lebenserwartung in der Schweiz ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Gesund und fit alt werden ist daher ein wichtiges Ziel, um in den gewonnenen Lebensjahren aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Mit dem Alter steigt jedoch auch das Risiko für viele chronische Erkrankungen und die Entwicklung von Einschränkungen in der Selbsthilfefähigkeit.

Werden ältere Menschen langsamer, verlieren Muskelkraft und haben zunehmend Schwierigkeiten mit der Alltagsbewältigung und körperlicher Aktivität, kann dies jedoch über das „normale“ Altern hinausgehen. Bei starker Ausprägung werden diese Einschränkungen unter dem Oberbegriff Gebrechlichkeit zusammengefasst. Ärztinnen und Ärzte verwenden dafür oft auch den englischen Begriff Frailty.

Gebrechlichkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, häufiger stationär im Spital behandelt zu werden und akute Erkrankungen weniger gut zu überstehen. Betroffene leiden ausserdem unter einer deutlich geringeren Lebensqualität. Wichtig ist der Grad an Gebrechlichkeit auch, um abzuschätzen, ob ein Mensch eine geplante Behandlung oder Operation gut überstehen kann. Denn sehr gebrechliche Menschen sind anfälliger für Komplikationen oder Infektionen und haben eine geringere Lebenserwartung, z.B. nach einer Operation.

Überblick: Wie äussert sich Gebrechlichkeit?

Fast alle Menschen in hohem Alter leiden an chronischen Krankheiten, einige sogar an mehreren gleichzeitig (sogenannte „Multimorbidität“). Dass sie nicht mehr so schnell und fit sind wie junge Leute, ist klar. Trotzdem ist der körperliche Zustand auch hochaltriger Menschen sehr unterschiedlich. Das biologische Alter ist dabei eine wichtigere Grösse als das Geburtsdatum alleine. Gegen manche mit dem Alter verbundene Beschwerden und auch Gebrechlichkeit können Betroffene zum Teil vorbeugen oder sie lassen sich gut behandeln – wenn man sie rechtzeitig erkennt. Fachleute sprechen deshalb von Frailty, um die Gebrechlichkeit anhand von klaren wissenschaftlichen Kriterien zu erkennen und zu beurteilen.

Eine Einschätzung der Gebrechlichkeit ist vor allem wichtig, wenn es um die Entscheidung für oder gegen eine Operation bei älteren Menschen geht. Dabei stellt sich die Frage nach Fitness oder Gebrechlichkeit immer häufiger – etwa beim Einsatz eines künstlichen Hüft- oder Kniegelenks, bei einer Herz-OP oder vor dem Beginn einer Chemotherapie. Wer wenig belastbar ist und wenig Widerstandskraft besitzt, würde solch eine Operation oder Therapie vielleicht nicht gut überstehen. Da gilt es dann, den erwarteten Nutzen gegen einen möglichen Schaden sorgfältig abzuwägen.

Kriterien der Gebrechlichkeit

Die Ausprägung der Gebrechlichkeit eines Menschen ist sehr individuell. Jeder hat Dinge, die ihm leichter oder schwerer fallen. Trotzdem versuchen Medizinerinnen und Mediziner, die Einschränkungen standardisiert einzuordnen. Es gibt verschiedene Methoden, die Gebrechlichkeit eines Menschen einzuschätzen. Manche Medizinerinnen und Mediziner haben in ihren Kriterienkatalog neben körperlichen auch psychische und soziale Faktoren aufgenommen. Häufig benutzen Ärztinnen und Ärzte den „Phänotyp nach Fried“, um die Gebrechlichkeit zu beurteilen. Fried hat dazu fünf einfach zu festzustellende Kriterien festgelegt:

  • Hat der oder die Betroffene im vergangenen Jahr ungewollt mehr als 4,5 Kilogramm an Gewicht verloren?
  • Fühlt sich der alte Mensch häufig erschöpft?
  • Zeigt sich bei einer Messung der Handkraft eine Muskelschwäche?
  • Beträgt die Gehgeschwindigkeit weniger als 0,8 Meter pro Sekunde?
  • Zeigt der oder die Betroffene eine geringe körperliche Aktivität?

Wenn von diesen fünf Merkmalen mindestens drei erfüllt sind, stuft Fried den Untersuchten als gebrechlich ein. Liegen zwei Kriterien vor, interpretiert Fried Betroffene als prä-frail, was ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Gebrechlichkeit bedeutet. Beide Geschlechter sind von der Problematik etwa gleich betroffen. Ab 80 Jahren steigt die Zahl der gebrechlichen Menschen deutlich an.

Gebrechlichkeit: Ursachen und Vorbeugung

Etwa jeder 7. Mensch im Alter von über 65 Jahren ist von Gebrechlichkeit betroffen. Die Häufigkeit von Gebrechlichkeit ist jedoch sehr von der untersuchten „Stichprobe“ abhängig. Das bedeutet, dass Gebrechlichkeit z.B. bei Bewohnern und Bewohnerinnen von Pflegeheimen deutlich häufiger vorkommt als bei selbständig zuhause lebenden älteren Menschen. Oft ist die Entwicklung von Gebrechlichkeit ein schleichender Prozess. Je älter die Menschen werden, desto mehr nimmt ihre Kraft und Beweglichkeit ab. Dagegen lässt sich allerdings etwas tun: Wer sich regelmässig bewegt und gymnastische Übungen macht, hält seine Muskeln und Gelenke fit. Es gibt auch Fitnessstudios, die sich auf ältere Menschen spezialisiert haben und ein schonendes Krafttraining anbieten. Regelmässige Gymnastikrunden können ebenfalls beim körperlichen Training helfen und regen gleichzeitig soziale Interaktionen an. Spaziergänge, leichte Gartenarbeit oder Tätigkeiten im Haushalt oder ein Heimtrainingsprogramm helfen ebenfalls.

Ein weiteres Problem mancher betagten Menschen ist die Ernährung: Betroffene verlieren oft den Appetit, sie empfinden die Zubereitung der Mahlzeiten als mühsam und essen deswegen nur noch wenig oder einseitig. Mobile Lieferdienste, die gesunde und ausgewogene Mahlzeiten nach Hause bringen, können hier helfen. Auch Angehörige können in diesem Fall gut unterstützen: Sie können Betroffenen Einkäufe oder fertig zubereitete Mahlzeiten vorbeibringen und sie regelmässig nach ihrer Ernährung befragen. Gemeinsame Mahlzeiten erhöhen meist den Appetit. Besonders häufig fehlen älteren Menschen Vitamin D und Eiweiss, haben Ernährungsspezialistinnen und Ernährungsspezialisten festgestellt. Wer sich bewusst ernährt, kann das vermeiden. Insgesamt schätzen Ärztinnen und Ärzte, dass ein Body Mass Index (BMI) unter 23 im Alter als Risiko einzuordnen ist. Oft hilft die Gemeinschaft mit anderen Menschen, geistig und körperlich fit zu bleiben. Denn auch geistige Anregungen sind für das Fitnessgefühl wichtig. Seniorengruppen oder Hobbys sind eine gute Möglichkeit, Kontakte zu halten oder aufzubauen.

Ältere Frau läuft mit einer Gehhilfe

Symptome: Erschöpfung bei Gebrechlichkeit

Die fünf Symptome, die Fried festgelegt hat, können vielfältige Ursachen haben:

  • So kann der Grund für den ungewollten Gewichtsverlust etwa darin liegen, dass ein künstliches Gebiss schlecht sitzt und Schmerzen bereitet. Auch die Einnahme bestimmter Medikamente, bzw. Polypharmazie (d.h. die regelmässige Einnahme von vielen verschiedenen Medikamenten), eine chronische Erkrankung oder ein Tumor kann einen ungewollten Gewichtsverlust verursachen. Der im Alter typische langsame Verlust des Geschmackssinns kann ebenfalls zu weniger Appetit führen.
  • Eine auffällige Erschöpfung kann Zeichen einer Herzschwäche, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder etwa einer chronischen Lungenerkrankung und auch von Depressionen sein. Deshalb gilt es, bei gebrechlichen Menschen diese Faktoren abzuklären.
  • Muskelschwäche ist oft ein Teufelskreis: Durch Umstellungen im Hormonhaushalt oder Mangelernährung nimmt die Muskelmasse ab. Das führt zu Unsicherheit beim Laufen, das Risiko für Stürze steigt. Dadurch bewegen sich Betroffene weniger und der Körper baut weiter Muskeln ab, was zu einer sogenannten Sarkopenie führen kann.
  • Für auffällig langsames Gehen gibt es viele mögliche Ursachen. Manchmal schmerzen die Gelenke, manchmal hat das Sehvermögen nachgelassen oder die Koordination klappt nicht mehr so gut. Auch hier kann ein genauerer Blick auf die Ursachen manchmal Erleichterung verschaffen.
  • Eine geringe körperliche Aktivität kann an vielen der oben genannten Gründe liegen. Manchmal ist jedoch auch eine Depression oder ein allgemeines Gefühl von Einsamkeit die Ursache dafür, dass ein alter Mensch kaum noch seine Wohnung verlässt. Dann helfen soziale Interaktionen oder eine psychologische Behandlung.

Gebrechlichkeit: Diagnose bei uns

Oft legt schon der erste Blick auf einen Betroffenen den Verdacht auf Frailty nahe: Langsame und vorsichtige Bewegungen fallen schnell auf. Meist wird die Ärztin oder der Arzt den Betroffenen dann wiegen und fragen, ob er in den vergangenen Monaten abgenommen hat. Dann erkundigen sie sich, wie selbstständig und aktiv derjenige in seinem Alltag ist. Mit Hilfe eines Greifstärkemessers kann die Ärztin oder der Arzt feststellen, wie viel Kraft jemand beim Händedruck hat. Das gibt Auskunft über die Muskelstärke. Auch über die Ernährung will die Ärztin oder der Arzt in der Regel etwas erfahren und nimmt dafür in vielen Fällen einen Fragebogen zu Hilfe.

Zusätzlich wird die Ärztin oder der Arzt häufig Blutwerte bestimmen lassen, um mögliche bisher unbekannte Vorerkrankungen zu erkennen. Manche Medizinerinnen und Mediziner verwenden auch weitere Fragebögen, die bis zu 70 Kriterien für eine Diagnose der Gebrechlichkeit enthalten können. Ein wichtiger Punkt ist die Ernährung. Laut Studien sind von den in einer Geriatrie aufgenommenen Menschen bis zu 60 Prozent mangelernährt. Eine gezielte Zusammenstellung der Ernährung und viel Ermutigung zu gesundem Essen können hier Abhilfe schaffen.

Gebrechlichkeit: Operationen gefährlicher

Die Einschätzung des Grades an Gebrechlichkeit ist vor allem wichtig, wenn eine Operation ansteht. Studien haben gezeigt, dass Frailty die Gefahr, nach einer Operation zu sterben, deutlich erhöht. Bei gebrechlichen Menschen treten nach Operationen häufiger Komplikationen auf und sie müssen häufig länger im Spital bleiben als fitte Gleichaltrige. Ausserdem spielt es eine wichtige Rolle, ob Betroffene nach ihrem Spitalaufenthalt wieder in ihre Wohnung zurückkehren können und dort ihren Alltag bewältigen. Je gebrechlicher ein Mensch ist, desto höher ist auch das Risiko, nach der Operation ein Delir zu erleiden. Diese Wahrnehmungsstörung, verbunden mit einem Orientierungsverlust und oft hoher Erregung, tritt manchmal nach einer Narkose auf.

Operation bei Frailty gut planen

Ärztinnen und Ärzte versuchen, diesen postoperativen Problemen bei gebrechlichen Patientinnen und Patienten gezielt vorzubeugen: So können sie die Nüchternheitszeiten der Betroffenen möglichst gering halten – indem sie etwa Gebrechliche morgens als erstes operieren. Im Universitätsspital Zürich werden weiterhin spezielle Massnahmen eingesetzt, um ein Delir möglichst rasch erkennen und behandeln zu können. Narkoseärztinnen und Narkoseärzte achten sehr sensibel auf die Tiefe der Narkose, um ein Delir zu vermeiden. Bei manchen älteren Patientinnen und Patienten wirkt die Narkose stärker als bei jüngeren Menschen. Nach einer Operation sollten Schmerzen gut behandelt werden. Da manche Hochbetagte ihre Schmerzen nur wenig äussern, muss das Pflegepersonal hier empathisch agieren.

Hilfreich ist auch eine intensive Zusammenarbeit zwischen Spital und Hausärztinnen und Hausärzten bei der Betreuung gebrechlicher Patientinnen und Patienten. Personalisierte Behandlungskonzepte haben bereits gute Erfolge gezeigt. Das von der Klinikdirektorin der Geriatrie USZ, Frau Prof. Heike Bischoff-Ferrari geleitete Projekt Swiss Frailty Network & Repository ist eine Zusammenarbeit mit den Schweizer Lehrstühlen für Geriatrie in Basel, Bern, Genf und Lausanne im Rahmen der Swiss Personalized Health Network (SPHN), und soll dazu beitragen, Frailty im Spital rechtzeitig zu erkennen und einheitlich zu beschreiben. Informationen dazu stehen auf Deutsch, Englisch und Französisch zur Verfügung.

Frailty: Vorbeugen vor einer Operation

Wenn genügend Zeit bis zu einer Operation bleibt, hilft es, gebrechliche Menschen vorher gezielt zu stärken. Einerseits kann dies durch eine Ernährung geschehen, die auf viel Eiweiss und Vitamine basiert. Andererseits kann körperliches und geistiges Training die allgemeine Fitness eines Menschen deutlich erhöhen. Studien haben gezeigt, dass dadurch gebrechliche Menschen in eine deutlich bessere Ausgangslage für eine Operation gebracht werden können. Am besten ist es jedoch, Menschen bereits frühzeitig zu aktivieren. Deshalb sollten Angehörige nach ersten Anzeichen von Frailty – etwa einem Sturz – über die Faktoren, die zu Gebrechlichkeit führen, informiert werden.

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