Entzugsproblematik – Betreuung von Neugeborenen

Mit viel Einfühlungsvermögen und einem strukturierten Betreuungs- und Behandlungskonzept unterstützen wir die Kinder und ihre Familien.

Philosophie

Neugeborene mit Entzugssymptomen und ihre Eltern zu betreuen erfordert viel Einfühlungsvermögen und ein strukturiertes Betreuungs- und Behandlungskonzept. Diese Kinder und ihre Familien benötigen spezielle Unterstützung, sowohl in psychischen wie auch in physischen Bereichen. Durch den Suchtmittelkonsum der Eltern ist das Behandlungsteam häufig mit zusätzlichen Betreuungsproblemen konfrontiert.

Bezugspersonen gewährleisten eine konstante Betreuung des Neugeborenen während der Phase des akuten Entzugs und der Zeit danach bis zum Austritt. Eine transparente und wertschätzende Begleitung unterstützt die Eltern darin, ihre eigenen Ressourcen zu erkennen und wahrzunehmen und sich mit ihrer Elternrolle auseinanderzusetzen. Im multiprofessionellen Team werden nach Möglichkeit zusammen mit den Eltern die zukünftigen besten Betreuungsmöglichkeiten des Neugeborenen geklärt und in die Wege geleitet.

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Vorgehen nach Geburt

Zeigt das Kind nach der Geburt keine Adaptationsschwierigkeiten, kann es vom Gebärsaal mit seiner Mutter auf die Wochenbettstation verlegt werden. Ausnahmen bilden Situationen, in welchen dies wegen gesundheitlichen Gründen seitens der Mutter oder aus anderen psychosozialen Gründen nicht möglich ist und somit das Neugeborene primär auf die Neugeborenenabteilung aufgenommen wird. Ansonsten wird das Kind erst dann auf die Neonatologie-Abteilung verlegt, wenn im Wochenbett die nicht medikamentöse Behandlung des Opitat-Entzugs ausgeschöpft ist und eine medikamentöse Behandlung eingeleitet werden muss.

Bei jedem Kind mit positiver mütterlicher Anamnese eines Suchtmittelkonsums während der Schwangerschaft wird alle acht Stunden ein Verhaltensscore erhoben sowie zweimal ein Mekonium-Screening auf Drogen durchgeführt. Als Mekonium bezeichnet man den ersten Stuhlgang des Neugeborenen. Das Drogen-Screening im Mekonium lässt Rückschlüsse über den Suchtmittel-Konsum der Mutter vor der Geburt zu und kann mit den von der Mutter angegebenen Substanzen verglichen werden. Je nach nachgewiesenem Suchtmittel kann dies Auswirkungen auf den Entscheid haben, ob das Kind gestillt werden darf; es kann jedoch keine verlässliche Aussage bezüglich Eintreten, Schweregrad oder Dauer des kindlichen Entzuges gemacht werden. Die Hospitalisationszeit besteht aus einer Kontakt-/ einer Kennenlern- und einer Beobachtungsphase.

Falls nicht bereits anlässlich der Schwangerschaftskontrollen erfolgt, wird der Sozialdienst beigezogen und die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde (KESB) schriftlich vorinformiert. Spätestens wird dies während der Hospitalisation des Kindes durch die Bezugsärztin/-arzt gemacht. Dieser Brief wird ergänzt mit einem Bericht des Sozialdienstes USZ. Weitere Informationen sowie einen allfällig notwendigen Auftrag nach einer Abklärung der Gefährdungssituation erhalten die Behörden aufgrund einer pflegerischen und ärztlichen Situationseinschätzung. Falls das Kind fremdplatziert wird oder ein Austritt in eine Mutter-Kind-Einrichtung geplant wird, stehen im Kanton Zürich einige Institutionen (z.B. Monikaheim, Ulmenhof, Entlisberg, etc.) zur Verfügung.

Nach der Spitalentlassung ist es wichtig, dass Kind und Familie weiter betreut werden. Deswegen informieren wir alle involvierten Stellen über die Entlassung des Kindes. Über Langzeitfolgen ehemaliger Kinder mit Entzugsproblematik existieren nur wenige Berichte. Studien zufolge übt das soziale Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen, einen massgeblicheren Einfluss auf ihre Entwicklung aus.

Zusammenarbeit mit den Eltern

Unter Suchtproblematik verstehen wir den zur Abhängigkeit führenden Konsum der Eltern von Suchtmitteln inklusive Alkohol und Medikamenten. Aus medizinischer Sicht ist die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Substanzen weniger von Bedeutung, als vielmehr die Wirkung und Gefährlichkeit der Substanz (-en) für den menschlichen Organismus. Durch den Suchtmittelkonsum der Eltern ist das Behandlungsteam häufig mit zusätzlichen Betreuungsproblemen konfrontiert.

Neugeborene mit Entzugssymptomen und deren Eltern zu betreuen erfordert nebst einem klar definierten strukturierten Rahmen und festen Abmachungen, viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Bezugspersonen gewährleisten eine konstante Betreuung des Neugeborenen während der Phase des akuten Entzugs und der Zeit danach bis zum Austritt. Eine transparente und wertschätzende Begleitung unterstützt die Eltern darin, ihre eigenen Ressourcen sowie die ihrer Angehörigen und Bezugspersonen zu erkennen und zu mobilisieren, und sich mit ihrer Elternrolle auseinanderzusetzen und einzuleben. Die gezielte Gesprächsführung beeinflusst massgeblich die Betreuung und Zusammenarbeit mit den Eltern. Alle offiziellen Gespräche werden dokumentiert und als schriftliche Kopie den Eltern abgegeben.

Stillen bei Suchtmittelkonsum

Heutzutage soll eine Mutter mit Substanzmittelkonsum zum Stillen motiviert werden; dies reduziert die Wahrscheinlichkeit einer medikamentösen Entzugsbehandlung. Ausnahmen sind mütterliche schwere Polytoxikomanie (Konsum verschiedener Suchtmittel, insbesondere synthetischer Drogen mit unbekannter Zusammensetzung) und Kokainkonsum. Aufgrund von möglichen Organschäden ist Stillen bei Konsum von Kokain absolut kontraindiziert.

Entzugssymptome

Alle Symptome des Neugeborenen sind eine Reaktion auf den Wegfall der intrauterinen Suchtmittelexposition. In der grossen Mehrheit der Fälle sind Opiate ursächlich verantwortlich; selten kann ein neonataler Entzug auch auf mütterlichen Konsum von Psychopharmaka auftreten. Mütterlicher Konsum von Kokain oder Marihuana geht i.d.R. nicht mit einem klinisch relevanten neonatalen Entzug einher.

Das neonatale Entzugsyndrom ist eine komplexe multisystemische Störung, welche vornehmlich das Zentralnervensystem (Irritabilität, Zittern, schrilles Schreien, muskulärer Hypertonus, Hyperthermie u.a.m.), das autonome Nervensystem und den Gastrointestinaltrakt beeinträchtigt. Das vegetative Nervensystem regelt den inneren Betrieb des Körpers, hält alle lebenswichtigen Organfunktionen aufrecht und passt den Körper an wechselnde Umweltbedingungen an. Es steuert Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Ernährung, Verdauung, Drüsentätigkeit, Temperatur, Ausscheidung, Aktivität, Schlaf, Wachstum und Reifung. Die Reaktionen des vegetativen Nervensystems sind unwillkürlich und daher nicht steuerbar.

Der Körper reagiert auf das Fehlen des Suchmittels; dieser Zustand wird von Erwachsenen als sehr schmerzhaft und kaum auszuhalten beschrieben. Die Gewichtszunahme des Neugeborenen ist dann oft ungenügend, da der allgemeine Grundumsatz erhöht und die Nahrungsaufnahme erschwert ist; nicht selten kommen Erbrechen und Durchfall dazu. Kinder, deren Entzug medikamentös behandelt wird, zeigen weniger Symptome und nehmen an Gewicht zu. Sie können schlafen und die Entzugssymptome zeigen sich vorwiegend in den Wachphasen. Infolge der Medikamentenreduktion können sich die Entzugssymptome wieder verstärken und/oder es entstehen neue. Bei der Interpretation des Verhaltensscore muss ein altersentsprechendes Verhalten in der Einschätzung berücksichtigt werden.

Verhaltensscore (modifiziert nach Finnegan)

Beim Finnegan Score handelt es sich um ein Instrument zur klinischen Beurteilung des Schweregrades eines Entzuges. Spezifische Entzugssymptome können damit bewertet und somit objektiv gemacht werden. Die Einschätzung beruht auf neurologischen, vegetativen und gastro-intestinalen Symptomen, sowie der Atemfrequenz.

Jedem Symptom und dem damit verbundenen Schweregrad wird eine Punktzahl zugewiesen. Die Gesamtpunktzahl gibt Auskunft über den Schweregrad und damit über die Ausprägung des neonatalen Entzugssyndroms und bestimmt massgeblich den medikamentösen Therapiebeginn, dessen Einstellung sowie den weiteren Therapieverlauf. Diese Beurteilung wird alle acht Stunden von der Pflegefachfrau durchgeführt und dokumentiert.

Behandlung des Entzugs

Nicht-medikamentöse Behandlung

Es besteht ein breiter Konsens, dass die nicht-pharmakologische Behandlung immer den ersten Behandlungsschritt darstellt. Bei mildem neonatalen Entzugssyndrom mögen diese Massnahmen ausreichen. Zentral sind:

  • Unterstützung der Eltern-/Mutter-Kind Beziehung: Bonding, unnötige Trennung Kind-Mutter vermeiden, wenn immer möglich Rooming-in; aktives Einbeziehen der Mutter in Pflege ihres Kindes, Einweisung in nicht medikamentöse Methoden, häufige Mahlzeiten (evtl. Anreicherung), sanftes Handling, Känguru, Trösten, Stimulusverminderung (Licht und Lärm), Herumtragen, sanftes Wiegen, Kuscheln, Massage, Musiktherapie, Schlaf/Wach-Rhythmus.
  • Rooming-in: Wird der Familie mit ihrem Neugeborenen mit Opiat-Entzug ein Rooming-in angeboten, kann das Risiko für eine pharmakologische Behandlung um zirka 60–70% gesenkt und mit einer Verkürzung des Spitalaufenthaltes um 10–12 Tage assoziiert sein.
  • Stillen: Stillen ist mit etlichen Vorteilen verbunden: es verstärkt die Bindung Mutter-Kind, erhöht das mütterliche Selbstwertgefühl, ermutigt die aktive mütterliche Teilnahme an der Betreuung des Kindes. Zudem kann es die Inzidenz an Entzugssyndrom, den Bedarf an medikamentöser Behandlung positiv beeinflussen und die Dauer des Spitalaufenthaltes um 3–7 Tage verkürzen. Von der Mutter eingenommenes Methadon oder Buprenorphin werden nur in kleinen Mengen in der Muttermilch ausgeschieden; somit gilt Stillen bei mütterlicher Einnahme dieser Substanzen als sicher. Stillen soll bei Opioid konsumierenden Müttern i.d.R. immer ermöglicht werden.
  • Ernährung: Falls Stillen nicht möglich ist, soll eine adaptierte Milch (evtl. angereichert) in häufigen und kleinen Mengen angeboten werden um Hungergefühl zu minimieren und den höheren kalorischen Bedürfnissen (150–200 kcal/Tag) gerecht zu werden.

Medikamentöse Therapie

50 bis 90% aller Neugeborenen, die in der Schwangerschaft Opiaten ausgesetzt waren, zeigen nach der Geburt Entzugssymptome – davon müssen jedoch nur 50% medikamentös behandelt werden. Zur medikamentösen Therapie wird vor allem oral verabreichtes Morphin eingesetzt, welches gründlich untersucht wurde und gut steuerbar ist. Vielversprechend ist Buprenorphin sublingual. Methadon wird zur medikamentösen Entzugsbehandlung von Neugeborenen in der Schweiz wenig eingesetzt. Der Verlauf der medikamentösen Therapie richtet sich nach dem «Algorithmus neonataler Suchtmittelentzug» der Neonatologie Universitätsspital Zürich und basiert auf den regelmässig durchgeführten Verhaltensscoren und deren korrekten Interpretation.

Im Moment gibt es keine allgemeingültige Evidenz bezüglich Indikation und Wirkung dieser Medikamente. Auf der Neonatologie des Universitätsspitals Zürich werden die Neugeborenen mit Entzugssymptomen primär mit Morphin behandelt.

Phenobarbital als Entzugsmedikament wird in unserer Klinik nicht verwendet.

Mitglieder der Betreuungsgruppe

Bezugspersonen sind

  • Pflege: Eine Pflegefachperson der Fachgruppe übernimmt den Pflegeprozess in der Rolle der Bezugspflegenden. Eine Pflegefachfrau aus dem Team unterstützt die Bezugspflegende im Sinne einer Tandembetreuung.
  • Medizin: Eine Oberärztin oder ein Oberarzt übernimmt die Rolle der Bezugsärztin oder des Bezugsarztes. Eine erfahrene Assistenzärztin oder Assistenzarzt kann die Rolle der Bezugsärztin oder des Bezugsarztes übernehmen, wenn die Familie über ein stabiles soziales Netz verfügt.

Unterstützende Betreuungspersonen

  • Sozialdienst USZ: Zuständige Sozialarbeiterin oder Sozialarbeiter für die Neonatologie. Es finden wöchentliche Gespräche mit dem Sozialdienst, der Pflege und der Ärzteschaft statt. Der Sozialdienst USZ ist im Kontakt mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) und organisiert falls nötig das Helfernetz für die Zeit nach der Entlassung. Bei Bedarf organisiert der Sozialdienst USZ Rundtischgespräche mit externen involvierten Stellen.
  • Physiotherapie: Zuständige Physiotherapeutin oder Physiotherapeut für die Neonatologie. Sie wird auf ärztliche Verordnung bei medikamentöser Behandlung des Entzugs und/oder auffälligem Entwicklungsbefund hinzugezogen.
  • Psychiatrischer Dienst USZ: Advanced Practice Nurse – Psychische Gesundheit. Sie beratet und unterstützt das Behandlungsteam im Umgang mit Suchtpatienten und im Abklärungsverfahren einer ausser-ordentlichen Kindsgefährdung.

Verantwortliche Fachpersonen

Barbara Dinten-Schmid

Pflegeexpertin

Tel. +41 44 255 53 98

Für Patientinnen und Patienten

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